Bau auf, bau auf

Author

Justin Turpel

Date
February 24, 2024

Wenn IWF und Weltbank die Ukraine wiederaufbauen wollen, kann man nur Sturm dagegen laufen

Seit mehr als zwei Jahren wehrt sich die Ukraine gegen die Aggression und Besetzung durch Putins Armee. Mit großen Anstrengungen kämpft das Land gegen die Invasion, wobei Linke und die Gewerkschaften eine unschätzbare Rolle im Widerstand spielen.

Zehntausende Soldaten und Zivilist:innen wurden getötet oder verletzt, 8,2 Millionen Menschen sind außerhalb der Ukraine auf der Flucht, 5,4 Millionen sind Binnenflüchtlinge. Millionen Menschen leben unter täglicher Bombendrohung und Kriegsrecht.

Nun will das internationale Finanzkapital mit Hilfe der US- und EU-Regierungen die ausgeblutete Ukraine gefügig machen. Was euphemistisch „Wiederaufbau“ genannt wird, ist in Wirklichkeit ein massives Verschuldungsprogramm. Dabei geht es vor allem darum, die Ukraine so umzubauen, dass sich ausländische Investoren und Konzerne nach dem Krieg das geschundene Land, seine Wirtschaft und seine Ressourcen unter den Nagel reißen können. Die Schulden der Ukraine sollen in den nächsten Jahren von 132 auf 170 Milliarden Dollar steigen.

Wiederaufbaukonferenz in Berlin

Seit 2017 treffen sich jährlich hochrangige Regierungsvertreter und Unternehmer der EU, der NATO, der G7-Staaten, Vertreter führender Unternehmen und Think-Tanks zur Ukraine Reform Conference (URC), um, wie es offiziell heißt, „die Ukraine in ihrem Streben nach Reformen zu unterstützen“. Seit der russischen Aggression wurden diese jährlichen Konferenzen in Ukraine Recovery Conference (URC) umbenannt. Bei der URC 2022 in Lugano wurde mit der „Lugano Declaration“ ein „Marshallplan“ für die Ukraine verabschiedet, der die Eckpfeiler für eine neoliberale Umstrukturierung der Ukraine als Voraussetzung für einen gemeinsamen Wiederaufbau festlegt. Bei der darauf folgenden URC 2023 in London wurde der Schwerpunkt auf die Beteiligung des Privatsektors gelegt. (Siehe SoZ Nr. 1/23 und 7/23)

Am 11. und 12. Juni 2024 wird die Ukraine Recovery Conference 2024 von der deutschen Bundesregierung in Berlin ausgerichtet. Sie wird seit einiger Zeit intensiv vorbereitet. Dazu fanden bereits zahlreiche Treffen mit Vertreter:innen aus Industrie und Wirtschaft sowie der Wissenschaft statt, auch im Beisein der ukrainischen Regierung, sowohl von Präsident Wolodymyr Selenskyj als auch von Oleksandr Kubrakow, dem für den Wiederaufbau zuständigen Vizepremierminister der Ukraine. Zur Koordination aller Akteur:innen und zur Beteiligung an zentralen Vorbereitungsveranstaltungen wurde von der Bundesregierung eine spezielle Plattform eingerichtet.

Die Europäische Kommission begleitet die Vorbereitung der URC 2024 sehr eng mit ihrer eigenen Agenda für so genannte Strukturreformen. In Berlin will die Bundesregierung die strukturelle Anpassung der ukrainischen Wirtschaft und Sozialpolitik an die EU-Vorgaben vorantreiben und eine stärkere Beteiligung der eigenen Privatwirtschaft erreichen. Auf Wunsch der hiesigen Unternehmerverbände und Konzerne wurde ein umfassender Schutz für Investitionen in der Ukraine eingeführt.

Besonderes Interesse haben deutsche Unternehmen und Regierung am so genannten „nachhaltigen Wiederaufbau der Wirtschaft“. Dazu gehört der ukrainische Energiemarkt, konkret der Aufbau einer Wasserstoffproduktion in der Ukraine nach neokolonialem Muster. Weitere Projekte betreffen die Industrialisierung der Landwirtschaft durch ausländisches Kapital, die Reorganisation des Gesundheitssektors, eine verstärkte Rolle im Städte- und Wohnungsbau sowie lukrative Beratungsleistungen zur Umsetzung der „nachhaltigen Strukturanpassung“ auf vielen Ebenen.

Schein und Sein: eine versteckte Agenda

Hinter den schönen Worten „Geld geben und den Wiederaufbau und nachhaltige Reformen unterstützen“ verbirgt sich das sehr eigennützige Ziel, die Investitionsbedingungen in der Ukraine so zu gestalten, dass die Investitionen für die Geberländer möglichst profitabel sind.

Eines der deutlichsten Zeichen, in welche Richtung der so genannte Wiederaufbau der Ukraine durch die westlichen Mächte gehen soll, ist die Tatsache, dass auf der Londoner URC 2023 BlackRock und JP Morgan mit der Koordination des Wiederaufbaus beauftragt wurden. BlackRock hat dabei die extraktivistischen Industrien im Auge, insbesondere den Bergbau, während JP Morgan den Finanzsektor übernehmen will. Eine Schocktherapie ist angesagt, wie sie in der Vergangenheit vielen Ländern durch Strukturreformen unter der Schirmherrschaft des Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgezwungen wurde. Kredite und Schulden spielten dabei immer eine zentrale Rolle, etwa bei der Rosskur, die die EU-Troika aus Europäischer Zentralbank, IWF und Europäischer Kommission Griechenland seit 2015 verordnet.

Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 versuchen die Westmächte, das Land einer Schocktherapie zu unterziehen. Die Ukraine widersetzte sich in der Vergangenheit jedoch teilweise den geforderten Maßnahmen, indem sie beispielsweise den Verkauf von Ackerland an ausländische Investoren verbot oder sich weigerte, öffentliche Infrastruktur und Dienstleistungen massiv zu privatisieren.

Dies wollen EU, IWF und Weltbank mit Unterstützung des internationalen Kapitals nun mit der Schuldenkeule nachholen. Die ukrainische Regierung hat die neuen Auflagen bereits akzeptiert. So wurde das 2001 verhängte Moratorium, das den Verkauf von Agrarland an Ausländer verbot, auf Druck des US-Außenministeriums, von IWF und Weltbank schon im Juni 2020 aufgehoben.

Im vergangenen Sommer wurde das Arbeitsrecht so verschlechtert, dass 70 Prozent der Beschäftigten einen Teil seines Schutzes und das Recht auf Tarifverhandlungen verloren haben. „Null-Stunden-Verträge“ wurden nach britischem Vorbild legalisiert, bei denen die Beschäftigten nicht wissen, wie viel Arbeit sie von einer Woche zur nächsten haben werden. Derzeit ist die ukrainische Regierung dabei, das Arbeitsgesetz nochmals drastisch zu verschlechtern.

Schocktherapie

Bei der Schocktherapie, die die Westmächte mit Unterstützung von IWF und Weltbank der Ukraine verpassen wollen, sind die Kredite – also die Schulden in Höhe von bisher 132 Milliarden US-Dollar und die 486 Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau in den nächsten zehn Jahren – der zentrale Hebel, um das Land zu erpressen und ihm eine neoliberale Politik aufzuzwingen: umfassende Privatisierung der Staatsbetriebe, der Infrastruktur und des fruchtbaren Landes, weitere Deregulierung und Abbau des Arbeitsrechts, Abbau der öffentlichen Dienstleistungen und Öffnung des Landes für das multinationale Kapital. Das waren die Bedingungen der Gläubigerländer auf der URC2023 in London.

Die Bundesregierung will mit der URC2024 in Berlin dazu beitragen, diese „Reform“ziele zu erreichen. Zwar zögert das deutsche und europäische Kapital noch, massiv in der Ukraine zu investieren, aber ‒ so das Credo der aktuellen Politik ‒ wenn der Krieg vorbei, das Land am Boden, die Arbeiter gefügig und die Investitionsbedingungen gut sind, dann wird sich das ändern.

Derzeit wird viel darüber diskutiert, ob sich die Ukraine von der neoliberalen Politik abwendet, denn die Regierung scheint bestrebt zu sein, dem Staat eine größere Rolle beim Wiederaufbau zu geben. Tatsächlich scheint die Ukraine bereit zu sein, auch Unternehmer und Oligarchen zu besteuern, um durch PPPs (Private Public Partnerships, öffentlich-private Partnerschaften), also durch die Kooperation der öffentlichen Hand mit der Privatwirtschaft, eine eigene Rolle beim Wiederaufbau der Infrastruktur spielen zu können.

Entgegen anderslautenden Behauptungen bedeuten aber weder eine stärkere Rolle des Staates noch PPPs eine Abkehr von neoliberaler Politik, etwa im Arbeitsrecht und bei der sozialen Sicherung. Diesbezüglich sollte man sich keinen Illusionen hingeben, genauso wenig wie sich die ukrainischen Lohnabhängigen und Gewerkschaften darauf verlassen können, dass ein EU-Beitritt eine Politik der Austerität und des Sozialabbaus über die Sozialcharta bremsen würde; auch in dieser Hinsicht hat Griechenland gezeigt, wie EU-Politik wirklich aussieht. Eine Schocktherapie kann nur abgewehrt werden, wenn sich die ukrainische und europäische Linke, Gewerkschaften und soziale Bewegungen solidarisch und gemeinsam dagegen wehren.

Für einen selbstbestimmten Wiederaufbau

Dies soll auch das Ziel einer Gegenveranstaltung zur URC2024 in Berlin sein, über die derzeit Personen und Organisationen aus dem sozialen, politischen und gewerkschaftlichen Bereich diskutieren. Dazu wird es voraussichtlich im März in Berlin ein Treffen mit allen geben, die bereit sind, sich an der Organisierung einer solchen Veranstaltung – so wie sie im letzten Jahr in London stattgefunden hat – zu beteiligen. Im Mittelpunkt stehen dabei der selbstbestimmte Wiederaufbau der Ukraine und die Solidarität mit der Bevölkerung und den gewerkschaftlichen, politischen und sozialen Bewegungen in der Ukraine.

Neben dem selbstbestimmten Wiederaufbau der Ukraine, der Abwehr von Angriffen auf soziale Errungenschaften und einer neokolonialen Energiepolitik wird es auch um die Notwendigkeit eines Schuldenerlasses für die Ukraine und die dringende Solidarität mit Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der Bevölkerung gehen.